#29: Michelles Rendez-vous mit einer Schlange
An jenem Tag habe ich noch zu Basil gesagt: «Hey, hier in Westaustralien mache ich mir irgendwie viel weniger Sorgen um Schlangen, weil die Umgebung offener und übersichtlicher ist als im Südosten. Trotzdem bin ich erstaunt, dass wir noch keiner begegnet sind.» Wieso habe ich das nur gesagt?!?
Natürlich hat die Schlange mich im ungünstigsten Moment «erwischt». Wir sind im Charles Knife Canyon des Cape Range National Parks von einem Aussichtspunkt zu nächsten gefahren und jeweils bloss kurz ausgestiegen, um die Landschaft zu geniessen. So waren wir auch gar nicht im Wandermodus à la «geschlossenes Schuhwerk tragen, immer fest auftreten und immer ganz gut überall hinschauen», sondern im «barfuss in den Badelatschen aus dem Auto hüpfen und mehr auf die Aussicht als auf den Boden achten»-Modus. Aus dem Augenwinkel habe ich plötzlich eine Bewegung wahrgenommen, was meinen Fokus sehr schnell vom Ausblick über den Canyon zurück auf den Boden vor mich verlagert hat…
Keine zwei Meter vor mir schlängelt ein Schlänglein frisch fröhlich vor sich hin. Man kann sich die Gedanken der Schlange regelrecht vorstellen «Wie lange dauert es wohl noch, bis sie mich wahrnimmt? Wie weit/hoch wird sie dann springen? Und wie laut wird sie schreien?» Zu meiner Verteidigung: Die Schlange schien sehr entspannt zu sein und hat nicht auf sich aufmerksam gemacht. Sie hat weder gezüngelt noch gezischt oder sich irgendwie in Angriffsposition versetzt. Wie gesagt, sie schlängelte einfach so ihres Weges. Die blöde Kuh hätte mich ja auch ein wenig vor unser Zusammentreffen vorwarnen und uns nicht beinahe übereinander stolpern lassen können. Ein freundliches «Absssstand bitte, anssssonssssten Bissss beim nächssssten Mal» hätten mir völlig gereicht. Na ja, hat sie nicht getan und dennoch habe ich ihre Präsenz ja dann doch noch wahrgenommen…
Millisekunden nach der Erkenntnis, was da vor mir kriecht, ist Bewegung in mich gekommen. Die ursprüngliche Vorwärtsbewegung hat sich in bestem Dressurpferde-Manier in eine Aufwärtsbewegung verwandelt: die Beine möglichst hoch und somit so weit wie möglich vom Boden respektive der Schlange weg (Anmerkung: diese Reaktion erscheint nur im ersten Schock-Reflex als sinnvoll, bringen tut sie eher wenig…). Nach diesem mässig eleganten Luftsprung (welcher die Schlange übrigens vollkommen unbeeindruckt weiter ihres Weges hat ziehen lassen), habe ich mich erstaunlich schnell wieder gefangen, habe mich langsam zurück zum Auto bewegt und Basil zugerufen (nicht geschrien oder gekreischt!), dass da vorne eine Schlange sei.
Ganz vorsichtig haben wir aus der Distanz noch ein Foto gemacht (ich wollte später noch herausfinden, über was für ein Exemplar ich da fast gestolpert bin) und haben dann die eben angekommenen Leute (darunter waren sowohl Australier/innen wie auch Tourist/innen) vor der Schlange gewarnt. Die sind dann voller Begeisterung – und in mindestens genauso ungeeignetem Schuhwerk wie ich – gleich in Richtung Schlange losgestapft. Sie haben sich wirklich sehr nahe an die Schlange gewagt und meinten dann in fachmännischem Ton «oh, das könnte wohl noch eine giftige sein, da sollten wir vielleicht ein bisschen Abstand halten». Heilige S******e! Ja, ihr solltet Abstand halten und ja, mit grösster Wahrscheinlichkeit ist die Schlange giftig, wir sind schliesslich in Australien! Die Frage ist kaum, ob die Schlange giftig ist, sondern wie lange es dauert, bis dich ihr Gift (ohne ärztliche Behandlung und Verabreichung eines Gegengifts) umbringt.
Mulga Snake (King Brown Snake)
Wie wir später von einem Parkranger erfahren haben, war es in der Tat – oh Wunder – eine giftige Schlange. Eine SEHR giftige sogar, nämlich eine Mulga Snake (King Brown Snake)! Er meinte, dass immer alle nur vom (Inland)Taipan als giftigste Schlange Australiens sprechen, aber diese hier, die Mulga, sei wahrscheinlich mindestens genauso giftig! Ihr Biss habe eine der höchsten Giftkonzentrationen und zu allem Übel beisse sie meistens gleich mehrfach zu. Ja dann, gute Nacht auch! Wir ziehen jetzt wieder schön brav unsere Wanderschuhe an, auch zum «nur kurz schauen».
Die Begegnung hat mich noch einige Tage (oder besser gesagt Nächte) recht beschäftigt, vor allem, nachdem ich erfahren habe, um welche Schlangenart es sich handelte. Auch wenn es in Australien jährlich nur eins bis zwei Personen gibt, die an einem Schlangenbiss sterben und weniger als 1% der Schlangenbisse in Australien tödlich verlaufen, so habe ich mir dennoch die unliebsamen «was wäre, wenn …»-Fragen gestellt und bin im Kopf die verschiedenen Szenarien durchgegangen. Angenommen, sie hätte mich gebissen: Stress pur, weil wir ja nicht gewusst hätten, ob es sich um eine giftige oder ungiftige Schlange handelt. Sobald ich gebissen worden wäre, hätte ich mich nicht mehr bewegen dürfen (damit sich das Gift nicht weiter in meinem Körper ausbreiten kann), gleichzeitig müsste ich jedoch auf dem schnellsten Weg medizinische Hilfe erhalten. Wenn ich mich also nicht bewegen darf, müsste die «medizinische Hilfe» zu mir kommen. Die nächste medizinische Einrichtung liegt im 30 km entfernten Exmouth. Natürlich hatten wir auch keinen Handyempfang…
Man muss ja auch nicht gleich davon ausgehen, dass man ab einem Schlangenbiss stirbt, aber es gibt sicherlich noch ganz viele – äusserst unangenehme und schmerzhafte – Abstufungen.